Wer sich im Schwimmbad nicht benimmt, fliegt raus. Und die meisten halten sich daher an die gängigen Regeln. Das ist im Straßenverkehr nicht so. Der Vergleich würde natürlich auch mit anderen öffentlichen Räumen funktionieren, aber im Schwimmbad herrschen sogar vergleichbare Regeln, wenn es um Richtungswechsel, Querungen oder Zugänge geht. Hinzukommt, dass durch die Bekleidung eine andere Verletzlichkeit der Personen entsteht und vor allem kaum irgendwo diversere Gruppen zusammenkommen. Was passiert also, wenn wir ein so normverletzendes Verhalten, wie es im Straßenverkehr üblich ist, ins Schwimmbad übertragen? Und was, wenn wir es ironisch-humorvoll versuchen? Kann das etwas an der Perspektive des Einzelnen ändern?
Das war die Fragestellung hinter der Kampagne #schönerverkehren. Die Social-Media-Kampagne verfolgte das Ziel, möglichst viele Verkehrsteilnehmer*innen des (städtischen) Straßenverkehrs für die Belange, Bedarfe und Verkehrsregeln der jeweils anderen Gruppen von Verkehrsmittelnutzer*innen zu sensibilisieren und eine gegenseitige Rücksichtnahme zu fördern. Ausgangspunkt der Kampagne war die Tatsache, dass viele Verkehrsteilnehmende unsicher bis unwissend sind, sowohl in Bezug auf die geltenden Regeln im Straßenverkehr als auch auf die Bedürfnisse der Nutzer*innen anderer Verkehrsmittel. Deutlich wird dies insbesondere in Social-Media-Beiträgen, in denen sich die Meinungen oft gegenseitig bestätigen oder verstärken. Dort paaren sich Unwissen, negative Vorurteile und Klischees und verstärken sich zu teilweise gefährlichem Handeln. Dabei ist letztlich selten jemand mit Absicht rücksichtslos, weswegen es wenig nützt, Rücksicht zu fordern – die meisten sind nämlich bereits der Meinung richtig zu handeln. Was es braucht, ist eine andere Perspektive.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden 15 Kurzfilme zu verschiedenen Konfliktsituationen im Straßenverkehr konzipiert, produziert und vor allem über die sozialen Medien verbreitet. Die Konflikte wurden in ein Schwimmbad übertragen und erst am Ende aufgelöst. Somit können Rezipient*innen sich nicht sofort den verschiedenen Verkehrsarten zuordnen und erleben die Situation vielleicht aus einer anderen Perspektive. Daraus kann sich eine Verhaltensänderung ergeben und damit mittel- bzw. langfristig dazu beitragen, Konflikte im Straßenverkehr zu reduzieren. Allein auf unseren Accounts auf YouTube, Twitter und Instagram wurden die Spots mehr als 300.000 mal gesehen, insgesamt hatte die Kampagne eine Reichweite von über 800.000. Dabei waren die Themen Elterntaxi, Dooring und Eckparken am häufigsten geklickt. Im Verhältnis zu unseren anderen Beiträgen lag die Interaktions- oder Engagementrate, die das Verhältnis von erreichten User*innen und deren Reaktionen misst, im Kampagnenzeitraum bei fast allen Spots weit höher als unsere durchschnittlicher Wert im Kampagnenzeitraum. So weit, so gut, aber was hat es gebracht?
Zum Start haben wir nicht zuerst einen der Spots gezeigt, sondern einen Videoclip, der nach einem zufällig aufgenommenen Streit auf der Straße aussehen sollte. Und er ging auf Twitter viral und befeuerte so die Kampagne. Zum Thema „Ampelphasen“ haben wir die Aktion „1. Berliner Ampelwettlauf“ initiiert – von der Aktion gab es drei begleitende Clips. Die Protagonistin war die gleiche wie in den Spots. Den Spot „Sicherheitsabstand“ mussten wir schon kurz nach Veröffentlichung löschen, weil er für Twitter zu viel nackte Haut zeigte. Und der „Handy“-Tweet wiederum hatte nur geringe Reichweite, weil unser Kampagnenpartner Polizei Berlin ihn wegen einer politischen Verbindung im Text nicht teilen konnte.
Um zu überprüfen, ob die Spots ihre Wirkung entfalten, haben wir mit Wissenschaftler*innen der Fachhochschule Bielefeld, die im Rahmen der Forschungsgruppe „Umweltpsychologie und Umweltverhalten“ seit vielen Jahren Verkehrsforschung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betreibt, ein Konzept erstellt. Als Evaluationsmethode wurde ein experimentelles Forschungsdesign mit Interventionsgruppe, die einen der Kampagnenfilme gesehen haben und Kontrollgruppe, die keinen Film zu sehen bekommen haben, gewählt. Im Rahmen der externen Evaluation wurden 702 Personen befragt, die in Städten mit mehr als 300.000 Einwohner*innen wohnen. Fast 52% waren weiblich (48,1% männlich, 0,2% = 1 Person divers) und das Durchschnittsalter lag bei 48 Jahren. 46% der Befragten nutzen primär den Pkw, 12% das Fahrrad, 22% die Öffentlichen Verkehrsmittel (ÖV) und 13% gehen meistens zu Fuß. Fast 70% der Befragten haben (fast) täglich die Möglichkeit einen Pkw zu nutzen.
Die Filme wurden durchschnittlich von mehr als 60% der Befragten als gut wahrgenommen und etwa genauso viele gaben an, dass sie sie zum Nachdenken angeregt haben. Der Spot „Geisterfahren“ hat hier 76% und wurde von fast 80% mit gut bewertet, was vor allem spannend ist, weil dieses Thema sich an ein Fehlverhalten von Radfahrenden richtet. In Social-Media-Diskussionen wird oft gerade im Zusammenhang mit Geisterfahren und Gehwegradeln das Bild der unbelehrbaren Radfahrenden gezeichnet, doch offenbar reflektieren sie ihr Verhalten sogar häufiger. Wenn es um die wahrgenommene Rücksicht im Verkehr geht, stimmen nur 2,5% voll und ganz zu und 4% zu, während die meisten mit 24,7% das Verhalten als eher rücksichtslos empfinden. Unter den Befragten war allerdings eine Gruppe (7%), die über einen Tweet (Twitter-Beitrag) an der Studie teilgenommen haben und von denen stimmt niemand dieser Aussage voll und ganz zu, aber mehr als ein Drittel überhaupt nicht. Weiterhin schätzen 83% in dieser Gruppe die gezeigte Situation „Dooring“ als „sehr gefährlich“ ein, während nur 10–60% in den anderen Gruppen die Situationen so bewerteten. Das ist der in unserer Ausgangssituation angesprochene Lupeneffekt, bei dem sich Meinungen durch soziale Medien verstärken. Aber insgesamt denken in den meisten Fällen 70–90% der Befragten, dass das intendierte Ziel der Filme damit erreicht werden kann.
Geisterfahren
Zweite-Reihe-Parken
Sicherheitsabstand
Ampelphasen
Handy
stimme überhaupt nicht / nicht / eher nicht zu
weder noch
stimme eher zu / zu / voll und ganz zu
Und hiermit wären wir fast schon am Ziel, aber wir haben noch mehr spannende Ergebnisse. Zum Beispiel, dass die ironische Überspitzung dieses konfliktbeladene Thema tatsächlich ohne erhobenen Zeigefinger präsentiert, denn keiner der Kampagnenfilme hat Reaktanz ausgelöst – also keinen Widerstand gegen wahrgenommenen Beeinflussungsdruck erzeugt.
Die Spots „Falschparken“, „ÖPNV“, „Handy“ und „Gehwegradeln“ haben eine signifikante Steigerung der Einschätzung der Gefährlichkeit und Verbreitung dieses jeweiligen Phänomens auf die Befragten genommen. Sie konnten also ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das ein gefährliches Verhalten ist und viel häufiger vorkommt als die Rezipient*innen vor dem Ansehen des Spots eigentlich dachten.
Personen, die Kampagnenfilme „Ampelphasen“ und „Sicherheitsabstand“ gesehen haben, bewerten „typische Autofahrende“ signifikant weniger gutmütig, aufrichtig und warm. Hier könnte durch die Filme eine neue Bewertung des Handelns von Autofahrenden stattgefunden haben.