Der Weg ist das Ziel: Da passiert schon genug.

„Ein Tempolimit beschneidet meine persönliche Freiheit.“ Deutschland ist das einzige Land in Europa, das kein generelles Tempolimit hat. Vielleicht würde das niemand so laut sagen, aber ein bisschen stolz sind manche schon darauf: In Deutschland hält sich der Widerstand gegen das Tempolimit beinahe so hartnäckig wie der Widerstand gegen die Römer im gallischen Dorf bei Asterix. In und um Städte wurden Straßen jahrzehntelang ausgebaut, damit der „Verkehr fließt“, was zu immer mehr Autos und weniger Fluss geführt hat. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Kfz in Berlin liegt bei gerade 24 km/h. Trotzdem gibt es regelmäßig heftige Diskussionen, wenn Tempo 30 in Städten debattiert wird: Dies würde zu mehr Abgasen, weniger pünktlichem Lieferverkehr und noch mehr Stau führen. Gerade im Berufsverkehr stehen Kfz-Fahrer*innen kilometerweit im Stau. Dass sie selbst der Stau sind und dass weniger Kfz zu weniger Stau führen, wird oft nicht als Lösung in Betracht gezogen. Die kurze Freiheit aufs Gaspedal treten zu können, steht an erster Stelle, auch wenn man weder schneller ist noch weniger oft wartet.

Am 1. September 1957 wurde das erste Tempolimit, nämlich 50 km/h innerorts, in Deutschland eingeführt, weil es zunehmend mehr Verkehrstote gab. Als 1974 der ADAC den Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ ausrief, mit dem er erfolgreich ein generelles Tempolimit auf Autobahnen verhinderte, gab es jährlich etwa 16.000 Verkehrstote. Für sie galt diese Freiheit ganz sicher nicht. Heute sterben immer noch über 3.000 Menschen im Jahr auf deutschen Straßen. Häufigste Ursache für ihren Tod ist zu schnelles Fahren – etwa ein Drittel dieser Zusammenstöße geschehen innerorts.

Zeitersparnis vs. Sicherheit
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Minuten
beträgt das Zeitersparnis bei einer Strecke von 100 km, wenn ein Pkw 160 km/h statt konstanter 130 km/h fährt

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Prozent
weniger Unfälle gab es in neu eingeführten Tempo-30-Zonen in London 

Quelle: Chris Grundy et al.; BMJ 2009

Bahnentrenner
Häufigste Fehler von Fahrer*innen bei Unfällen mit Getöteten 2018 (Deutschland)

Quelle: BMVI

25%

Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit

12%

Falsche Straßennutzung

10%

Einschränkung der Verkehrstüchtigkeit

Auch in der Europäischen Union ist zu schnelles Fahren die häufigste Todesursache im Straßenverkehr. Von 35.000 Getöteten sterben jährlich fast 12.000 Menschen infolge überhöhter Geschwindigkeit. Beim Blick auf die getöteten ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen steht Deutschland in absoluten Zahlen auf einem traurigen Spitzenplatz in Europa: In den Jahren 2009–2018 starben mehr als 9.000 Fußgänger*innen und Radfahrer*innen auf deutschen Straßen. Deutschlands Position wird dicht gefolgt von Rumänien, mit dem Unterschied: In Deutschland ist der Anteil der getöteten Radfahrer*innen mit weitem Abstand am höchsten, in Rumänien sind es die zu Fuß Gehenden. In den Top-5 der für Radfahrende gefährlichsten Städte Europas sind vier deutsche Städte enthalten: Berlin, Köln, Hamburg und Stuttgart.

Mit der zunehmenden Verbreitung größerer und leistungsstärkerer Kfz wächst zudem das Sicherheitsgefälle zwischen motorisierten und nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmer*innen: Bei den PS-Zahlen von Neuwagen wird stetig aufgerüstet. Was sich für die Insass*innen als Zuwachs an Komfort und Sicherheit darstellt, wird für andere Verkehrsteilnehmer*innen zunehmend zur Gefahrenquelle. Den hochaufgerüsteten Fahrzeugen steht immer noch ein menschliches Gehirn gegenüber und das ist evolutionsbiologisch immer noch auf Fußgängertempo angepasst. Menschen fokussieren ihre Aufmerksamkeit dorthin, wo sie in zwei bis drei Sekunden sein werden. Das sind bei 50 km/h etwa 40 Meter, bei 30 km/h etwa 15. Und in diesem Bereich können sich auch andere Menschen befinden.

Letztlich ist es die Geschwindigkeit, die über den Ausgang einer Kollision entscheidet. Dies gilt besonders im Stadtverkehr. Übersetzt man die Aufprallgeschwindigkeit eines Pkw auf eine*n Fußgänger*in kinetisch in eine Fallhöhe, käme ein solcher Zusammenstoß bei 30 km/h einem Sturz aus dem 1. Stock, bei 70 km/h wäre es, als würde man aus dem 6. Stock springen.
Ausgehend vom Bremsweg wird deutlich, wie kritisch sich ein paar Stundenkilometer mehr auswirken können.

Bremsweg
Bremsweg bei 30, 50 und 70 Stundenkilometern

»Wird’s heute noch?«

Bei zweiwöchigen Sonderkontrollen in Berlin im Juni 2020 registrierte die Polizei 20.000 Raser*innen – damit bliebe die Zahl ähnlich wie in den Vorjahren, nur die Wut über höhere Strafen sei gestiegen. Denn lange Zeit waren Geschwindigkeitsüberschreitungen im „Toleranzbereich“ und finanziell erschwinglich. Solange eine Überschreitung der Geschwindigkeit Spielraum zulässt, muss man davon ausgehen, dass dieser oft auch von vornherein einkalkuliert wird, besonders, wenn die zu erwartenden Strafen milde sind. Doch die Todeswahrscheinlichkeit der ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen steigt exponentiell mit der Geschwindigkeit. Die Wahrscheinlichkeit eines zu Fuß Gehenden bei einer Kollision mit einem Auto getötet zu werden, erhöht sich bei gefahrenen 70 statt 50 Stundenkilometern bereits um fast 50 Prozent. Etliche Studien und Erfahrungswerte vieler Länder belegen einen Rückgang der im Straßenverkehr Getöteten nach Einführung von Tempolimits – auf Autobahnen und in Städten.

In der StVO-Novelle 2020 wurden für Geschwindigkeitsüberschreitungen höhere Geldstrafen und Fahrverbote festgelegt. Damit wäre ab einer Überschreitung innerorts von 21 km/h zusätzlich zum Bußgeld ein Monat Fahrverbot hinzugekommen. Durch einen Formfehler in der frisch in Kraft getretenen StVO wurde sie vom Verkehrsministerium direkt wieder für ungültig erklärt. Die meisten Bundesländer setzen dementsprechend wieder die alten Sanktionen an, bis der Formfehler behoben ist. Dieses neu in Gang gesetzte Verfahren bietet nun aber auch die Möglichkeit, die Strafen neu zu verhandeln – allerdings in beide Richtungen.

Vergleich alte StVO und Novelle 2020 für Geschwindigkeitsüberschreitungen (innerorts)
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Euro
bei 16–20 km/h

neu: + 35 Euro

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Euro + 1 Punkt
bei 21–25 km/h

neu: + 1 Monat Fahrverbot

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Euro + 1 Punkt
bei 26–30 km/h

neu: + 1 Monat Fahrverbot

Quellen